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Dienstag, 3. Dezember 2013

Wenn uns etwas aus dem gewöhnlichen Gleise wirft, 
bilden wir uns ein, alles sei verloren. 
Dabei fängt nur etwas Neues, Gutes an. 
Solange Leben da ist, gibt es auch Glück.   

(Leo Nikolajewitsch Tolstoi)


Ein Leben im Handumdrehen.
Eine Aufführung ohne Probe.
Ein Körper von der Stange.
Ein Schädel ohne Bedacht.
Ich kenne die Rolle, die ich spiele, nicht.
Ich weiß nur, sie ist unauswechselbar mein.

(Wisława Szymborska)

Montag, 2. Dezember 2013

Und zu verschiedenen Zeiten geschieht es 
Dass wir sehr glücklich über 
Irgend ein Ding eine Nachricht 
Den neuen Geliebten das Kind 
Umhergehen können da freut uns 
Die eintönigste Arbeit da kochen wir 
Wunderbare Gerichte putzen die Fenster 
Und singen dabei küssen 
Die eben aufgesprungene Blüte 
Am Strauch vor der Tür reden 
Zu Unbekannten über die Straße 
Und beachten die Sonne nicht 
Den leichten tanzenden Schnee 
Es ist alles bekannt und vertraut 
So wird es immer sein glauben wir 
Und noch die furchtbaren Bilder 
In den Fernsehgeräten bestärken uns 
Wenigstens hier wird es so bleiben wir stapeln 
Die Zeitungen die uns ruhig schlafen lassen 
Sorgfältig auf bis sie abgeholt werden 
Wir sind ganz lebendig hüpfen und springen 
In den möblierten Wohnungen des Todes.

(Sarah Kirsch)

Sonntag, 1. Dezember 2013


Be soft. 
Do not let the world make you hard. 
Do not let pain make you hate. 
Do not let the bitterness steal your sweetness. 
Take pride that even though the rest of the world may disagree, 
you still believe it to be a beautiful place.

(Kurt Vonnegut)


Out beyond ideas 
of wrongdoing and rightdoing,
there is a field. 
I'll meet you there.

(Rumi)

Etwas gegen den Wind setzen

etwas Helles gegen die Nacht
etwas Festes gegen den Schwindel
etwas Klingendes gegen die Leere

einen Traum gegen den Tag
eine Insel gegen den Lärm
eine Rose gegen den Winter

ein Tun gegen das Chaos
ein Gedicht gegen die Sprachlosigkeit
Gebete gegen den Stumpfsinn

etwas gegen den Wind setzen


(Annemarie Schnitt)


Erwachen im Erwachen

seit ich erwachsen bin
ist auch anderen
bang vor mir

vor meinen träumen
und mehr noch
vor meinem erwachen

welche lieder
hab ich gesungen
mich einzuschläfern?

was tun meine hände?
wer weckt mich?
zu welchem geschäft?

(erich fried)

Samstag, 30. November 2013

VorweihnachtsEngel







Fotos: Raphael Fünfschilling
The doors of the year open,
like the doors of language,
onto the unknown.
Last night you said:
tomorrow
we must draw signs,
sketch a landscape, hatch a plot
on the unfolded page
of paper and the day.
Tomorrow we must invent,
anew,
the reality of this world.

When I opened my eyes it was late.
For a second of a second
I felt like the Aztec
on the rock-strewn peak,
watching
the cracks of horizons
for the uncertain return of time.

No, the year came back.
It filled the room,
and my glances could almost touch it.
Time, without our help,
had arranged
in the same order as yesterday,
the houses on the empty street,
the snow on the houses,
the silence on the snow.

You were beside me,
still sleeping.
The day had invented you,
but you hadn't yet accepted
your day's invention,
nor mine.
You were still in another day.

You were beside me,
and I saw you, like the snow,
asleep among the appearances.
Time, without our help,
invents houses, streets, trees,
sleeping women.

When you open your eyes
we'll walk, anew,
among the hours and their inventions,
and lingering among the appearances
we'll testify to time and its conjugations.
We'll open the doors of this day,
and go into the unknown.

(Octavio Paz)

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Die Türen des Jahres öffnen sich,
wie die der Sprache, dem Unbekannten entgegen.
Gestern abend sagtest du mir:
Morgen gilt es, ein paar Zeichen zu setzen, 
eine Landschaft zu skizzieren, einen Plan zu entwerfen
auf der Doppelseite 
des Papieres und des Tages.
Morgen gilt es, 
aufs neue,
die Wirklichkeit dieser Welt zu erfinden.

Spät erst öffnete ich die Augen.
Im Bruchtteil einer Sekunde
emfpand ich dasselbe wie der Azteke,
der lauernd
auf der Felsklippe des Vorgebirges
aus den Spalten des Horizontes
die ungewisse Rückkehr der Zeit erwartet.

Nein, das Jahr war zurückgekehrt.
Es füllte das ganze Zimmer,
bestastbar für meine Blicke.
Die Zeit hatte, ohne unsere Hilfe,
In der gleichen Ordnung,
wie sie auch gestern galt,
Häuser in die leere Straße gestellt,
Schnee gelegt auf die Häuser,
und Schweigen auf den Schnee.

Du warst an meiner Seite,
noch schlafend.
Der Tag hatte dich erfunden,
doch du nahmst noch nicht an
deine Erfindung an diesem Tag.
Vielleicht auch nicht die meine.
Du warst in einem anderen Tag.

Du wast an meiner Seite,
und ich sah dich, wie den Schnee,
schlafend zwischen den Erscheinungsbildern.
Die Zeit erfindet, ohne unsere Hilfe,
Häuser, Straßen, Bäume,
schlafende Frauen.

Wenn du die Augen öffnest,
werden wir uns erneut bewegen
zwischen den Stunden und ihren Erfindungen.
Werden uns bewegen zwischen den Erscheinungsbildern,
werden der Zeit vertrauen und ihren Verbindungen.
Vielleicht werden wir die Türen des Tages öffnen.
Dann werden wir das Unbekannte betreten.

(Octavio Paz)
www.planetsark.com

Weilessokaltist

Winterliebesgedicht
weilessokaltist
ziehensichdiewörterzusammen
aufdempapier
undwir
rückenauchganznah
zusammen
dannkönnenwiruns
liebenundwärmen

winterdukannstunsmal

(Hans-Curt Flemming)

Freitag, 29. November 2013



Wenn die Post nachts käme
und der Mond
schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weissen Gewändern
und stünden still im Flur.

(Ilse Aichinger)



Spätes Lesen

abgeblätterte
fassaden alter briefe

hinter
welchen sätzen
brennt noch licht

(Andre Rudolph)

Donnerstag, 28. November 2013


Ich habe dich
gefunden
und verliere
dich täglich.
Du bleibst
mir fremd
und warst mir
immer schon vertraut.
Halt mich fest
in deiner Hand
und lass
mich los
wie den Drachen
im Wind.

(Anne Steinwart)


Über die Hoffnung:

Es genügte, wenn man den Mut hätte, 
jene Art von Hoffnung abzuwerfen, 
die nur Aufschub bedeutet, 
Ausrede gegenüber jeder Gegenwart, 
die verfängliche Hoffnung 
auf den Feierabend und das Wochenende, 
die lebenslängliche Hoffnung 
auf das nächste Mal, auf das Jenseits - 
es genügte, den hunderttausend versklavten Seelen, 
die jetzt an ihren Pültchen hocken, 
diese Art von Hoffnung auszublasen: 
gross wäre das Entsetzen, 
gross und wirklich die Verwandlung. 

(Max Frisch, Tagebuch)

Mittwoch, 27. November 2013


Erbe die Kindheit aus dem Album.
Übertrage die Stille, die sich
weitet und zusammenzieht wie
ein Vogelschwarm im Flug.
In den Handflächen bewahre
den unregelmäßigen Schneeball
und die Tropfen, die die
Lebenslinie hinunterrinnen.
Sprich das Gebet
mit geschlossenen Lippen:
Die Worte sind ein Samen, der in einen Blumentopf fällt.

Schweigen lernt man im Mutterleib.

Versuche, geboren zu werden
wie ein großer Zeiger nach Mitternacht,
und schon überholen dich die Sekunden.

(Nikola Madzirov)

Dienstag, 26. November 2013

 life is other 
always there 
further off 
beyond you 
and beyond me 
always on the horizon 
life which unlives us 
and makes us strangers 
that invents our face 
and wears it away

(Octavio Paz) 
November November das hässliche Dorf
vom Auto aus gesehen und der
plötzliche Wunsch dort zu leben
altes Haus alte speckige Küche und
verblichenes Linoleum Hunderte von
Katzen haben darauf geworfen und
Leute sind aus ihren Pantoffeln
gekippt wir haben im Ofen Feuer gemacht
den Tisch und die Stühle ans Fenster
gerückt sitzen behaglich und sehen uns
zu da bin ich komme wer weiss von
der Arbeit zurück parke den Wagen unterm
Strassenlicht und stehe dann fröstelnd
im Abend aber wo bist du wir sehen dich
schliesslich am Ende der Strasse wie du
langsam näher kommst und endlich
winkst als du mich erkennst im frühen
Dunkel das ist ein schöner Moment
finden wir und du legst zuerst deine
Hand auf meine was wohl wird
aus den beiden und ob wir zu Bett gehen
oder noch ein wenig sitzen sollen

(Max Sessner)

Anklammern will ich mich
an die Vorsprünge der Lebendigkeit
von Fall zu Fall
ich, der letzte Rest von mir
Frei wollte ich sein
und offen
am Leben bleiben in diesem 
wüsten Himmelsmaul
frei und offen
im Blutrausch im Tränenschlamm
Beim Plauderton der Glattrasierten
nicht abgleiten
nicht verschlagen werden
von dem, was ich noch liebe
wie dich und mich

(Ludwig Fels)

Montag, 25. November 2013

Den Tag vor
dem Abend loben
sich nicht
umwenden
jeden Augenblick
segnen
auch den letzten
danach schweigen
und
aufstehen

(Wilhelm Bruners)

November