Fotos: Raphael Fünfschilling
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Samstag, 30. November 2013
The doors of the year open,
like the doors of language,
onto the unknown.
Last night you said:
tomorrow
we must draw signs,
sketch a landscape, hatch a plot
on the unfolded page
of paper and the day.
Tomorrow we must invent,
anew,
the reality of this world.
When I opened my eyes it was late.
For a second of a second
I felt like the Aztec
on the rock-strewn peak,
watching
the cracks of horizons
for the uncertain return of time.
No, the year came back.
It filled the room,
and my glances could almost touch it.
Time, without our help,
had arranged
in the same order as yesterday,
the houses on the empty street,
the snow on the houses,
the silence on the snow.
You were beside me,
still sleeping.
The day had invented you,
but you hadn't yet accepted
your day's invention,
nor mine.
You were still in another day.
You were beside me,
and I saw you, like the snow,
asleep among the appearances.
Time, without our help,
invents houses, streets, trees,
sleeping women.
When you open your eyes
we'll walk, anew,
among the hours and their inventions,
and lingering among the appearances
we'll testify to time and its conjugations.
We'll open the doors of this day,
and go into the unknown.
(Octavio Paz)
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Die Türen des Jahres öffnen sich,
wie die der Sprache, dem Unbekannten entgegen.
Gestern abend sagtest du mir:
Morgen gilt es, ein paar Zeichen zu setzen,
eine Landschaft zu skizzieren, einen Plan zu entwerfen
auf der Doppelseite
des Papieres und des Tages.
Morgen gilt es,
aufs neue,
die Wirklichkeit dieser Welt zu erfinden.
Spät erst öffnete ich die Augen.
Im Bruchtteil einer Sekunde
emfpand ich dasselbe wie der Azteke,
der lauernd
auf der Felsklippe des Vorgebirges
aus den Spalten des Horizontes
die ungewisse Rückkehr der Zeit erwartet.
Nein, das Jahr war zurückgekehrt.
Es füllte das ganze Zimmer,
bestastbar für meine Blicke.
Die Zeit hatte, ohne unsere Hilfe,
In der gleichen Ordnung,
wie sie auch gestern galt,
Häuser in die leere Straße gestellt,
Schnee gelegt auf die Häuser,
und Schweigen auf den Schnee.
Du warst an meiner Seite,
noch schlafend.
Der Tag hatte dich erfunden,
doch du nahmst noch nicht an
deine Erfindung an diesem Tag.
Vielleicht auch nicht die meine.
Du warst in einem anderen Tag.
Du wast an meiner Seite,
und ich sah dich, wie den Schnee,
schlafend zwischen den Erscheinungsbildern.
Die Zeit erfindet, ohne unsere Hilfe,
Häuser, Straßen, Bäume,
schlafende Frauen.
Wenn du die Augen öffnest,
werden wir uns erneut bewegen
zwischen den Stunden und ihren Erfindungen.
Werden uns bewegen zwischen den Erscheinungsbildern,
werden der Zeit vertrauen und ihren Verbindungen.
Vielleicht werden wir die Türen des Tages öffnen.
Dann werden wir das Unbekannte betreten.
(Octavio Paz)
Weilessokaltist
Winterliebesgedicht
weilessokaltist
ziehensichdiewörterzusammen
aufdempapier
undwir
rückenauchganznah
zusammen
dannkönnenwiruns
liebenundwärmen
winterdukannstunsmal
(Hans-Curt Flemming)
Freitag, 29. November 2013
Spätes Lesen
abgeblätterte
fassaden alter briefe
hinter
welchen sätzen
brennt noch licht
(Andre Rudolph)
Donnerstag, 28. November 2013
Über die Hoffnung:
Es genügte, wenn man den Mut hätte,
jene Art von Hoffnung abzuwerfen,
die nur Aufschub bedeutet,
Ausrede gegenüber jeder Gegenwart,
die verfängliche Hoffnung
auf den Feierabend und das Wochenende,
die lebenslängliche Hoffnung
auf das nächste Mal, auf das Jenseits -
es genügte, den hunderttausend versklavten Seelen,
die jetzt an ihren Pültchen hocken,
diese Art von Hoffnung auszublasen:
gross wäre das Entsetzen,
gross und wirklich die Verwandlung.
(Max Frisch, Tagebuch)
Mittwoch, 27. November 2013
Erbe die Kindheit aus dem Album.
Übertrage die Stille, die sich
weitet und zusammenzieht wie
ein Vogelschwarm im Flug.
In den Handflächen bewahre
den unregelmäßigen Schneeball
und die Tropfen, die die
Lebenslinie hinunterrinnen.
Sprich das Gebet
mit geschlossenen Lippen:
Die Worte sind ein Samen, der in einen Blumentopf fällt.
Schweigen lernt man im Mutterleib.
Versuche, geboren zu werden
wie ein großer Zeiger nach Mitternacht,
und schon überholen dich die Sekunden.
(Nikola Madzirov)
Dienstag, 26. November 2013
November November das hässliche Dorf
vom Auto aus gesehen und der
plötzliche Wunsch dort zu leben
altes Haus alte speckige Küche und
verblichenes Linoleum Hunderte von
Katzen haben darauf geworfen und
Leute sind aus ihren Pantoffeln
gekippt wir haben im Ofen Feuer gemacht
den Tisch und die Stühle ans Fenster
gerückt sitzen behaglich und sehen uns
zu da bin ich komme wer weiss von
der Arbeit zurück parke den Wagen unterm
Strassenlicht und stehe dann fröstelnd
im Abend aber wo bist du wir sehen dich
schliesslich am Ende der Strasse wie du
langsam näher kommst und endlich
winkst als du mich erkennst im frühen
Dunkel das ist ein schöner Moment
finden wir und du legst zuerst deine
Hand auf meine was wohl wird
aus den beiden und ob wir zu Bett gehen
oder noch ein wenig sitzen sollen
(Max Sessner)
Anklammern will ich mich
an die Vorsprünge der Lebendigkeit
von Fall zu Fall
ich, der letzte Rest von mir
Frei wollte ich sein
und offen
am Leben bleiben in diesem
wüsten Himmelsmaul
frei und offen
im Blutrausch im Tränenschlamm
Beim Plauderton der Glattrasierten
nicht abgleiten
nicht verschlagen werden
von dem, was ich noch liebe
wie dich und mich
(Ludwig Fels)
Montag, 25. November 2013
praktische hoffnung
die hoffnung geht zu fuss
die hoffnung strampelt auf dem rad
die hoffnung fährt mit der bahn
die hoffnung guckt wolken nach
die hoffnung grüsst den mond
die hoffnung findet zeit
die hoffnung verteidigt igel und bäume
die hoffnung versteckt asylanten
die hoffnung kauft im drittweltladen ein
die hoffnung fällt und erhebt sich wieder
die hoffnung steigt über berge
die hoffnung durchschwimmt das meer
die hoffnung bleibt neugierig
die hoffnung entdeckt zusammenhänge
die hoffnung sucht verbündete
die hoffnung kann entbehren
die hoffnung weiss zu geniessen
die hoffnung schürt das feuer der liebe
die hoffnung kann wütend werden
die hoffnung kann traurig sein
die hoffnung lacht subversiv
die hoffnung kämpft für das recht des anderen
die hoffnung feiert und tanzt
die hoffnung macht zärtlich
die hoffnung hat nichts
die hoffnung will alles
(Kurt Marti)
Sonntag, 24. November 2013
Ich lebe in einem leeren Raum,
Überfüllt mit Dingen, die ich längst nicht mehr will.
Es ist November. Die Zeit steht still.
Wie sie nur im November still stehen kann.
Die Dinge reden mich nicht an.
Und erst Nachmittag. Erst gegen vier.
Im dämmernden Draussen dunkel das Tier
Der Seele birgt sich im Baum.
Im Flieder birgt sich die Amsel vor Nacht.
Ich lebe in meinem leeren Raum.
Zur Nacht von der schlafenden Amsel bewacht.
(Eva Strittmatter)
Samstag, 23. November 2013
Wind ist gut. Liebe ist gut.
Nacht ist gut. Wenn die Liebe gut ist.
Wissen möchte ich, ob man die Liebe,
Wenn sie einst aufhört, nicht mehr vermißt.
Oder ob sie uns immer bleibt,
Dunkelnd mit uns in dämmernden Jahren.
Ob uns noch das zueinandertreibt?
Werden wir leben und es erfahren.
Jünger fühlt es sich grüner an.
Nichts trifft uns gründlich. Alles ist leicht.
Erst wenn man weiß, daß sie enden kann,
Hat man den Anfang der Liebe erreicht.
(Eva Strittmatter)
Donnerstag, 21. November 2013
I know the bottom, she says.
I know it with my great tap root:
It is what you fear.
I do not fear it: I have been there.
Is it the sea you hear in me,
Its dissatisfactions?
Or the voice of nothing,
that was your madness?
Love is a shadow.
How you lie and cry after it
Listen: these are its hooves:
it has gone off, like a horse.
All night I shall gallop thus, impetuously,
Till your head is a stone,
your pillow a little turf,
Echoing, echoing.
(Sylvia Plath)
Dienstag, 19. November 2013
Ein Mensch
Lasst ihm seinen Wert und seid's zufrieden.
Glaubt an ihn und seine gute Stunde.
Seine toten, flachen, leeren Tage
tragt, wie er sie trägt - geht vorüber.
O ihr wisst es schon, dass er sich manchmal
martert, dass er sich aus euch zermartert.
Fühlt ihr, seht ihr das, er geht vorüber.
Tiefe Schäden und Gebresten trägt er,
an verlornen Jahren reich wie keiner.
Aber etwas ist in ihm, das sprudelt
wie ein ewiger Quell, ob oft verschüttet.
Und ob dieses Quells voll Lebensperlen
bittet er: Vergebt ihm, was er nicht ist.
(Christian Morgenstern)
Türschild
Vorsicht bissige Stille, einzig
ein paar verzogene Jahresringe knarzen,
die Königssuite einer Bruchbude ist dahier
und vierundzwanzig Überstunden hat mein Tag.
(Walle Sayer )
Samstag, 16. November 2013
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiss gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen -
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nahe
bei deinem Herzen.
(Hilde Domin)
Freitag, 15. November 2013
Tagespensum
Einen Teig geknetet.
Die Katze gefüttert.
In Ecken geleuchtet.
Freundschaft
mit der Stille
geschlossen.
Mit Lesen
Hunger gestillt.
Die Nacht in
Ruhe gewickelt.
(Frauke Ohloff)
Donnerstag, 14. November 2013
Mittwoch, 13. November 2013
Dienstag, 12. November 2013
Gedichte
Leben,
in Bernstein geborgen,
begraben.
Narben,
berührbar,
unverletzlich.
Aufgezeichnete
Zeit im Werden.
Kreide oder Achat.
(Christina Busta)
Montag, 11. November 2013
Novembergedanken
Manchmal
überkommt mich November
mit Dunkelheit und Kälte
fall ich ins Nebelland
falle zurück
Manchmal
ist mir nach Mai
nach Lachen und Aufbruch
fall ich unter die Sonne
falle ins Glück
manchmal
weiß ich nicht wo ich stehe
ob im November im Mai
fühle Mai im November
fühle November im Mai
(Annemarie Schnitt)
Sonntag, 10. November 2013
Botschaften des Regens
Nachrichten, die für mich bestimmt sind,
weitergetrommelt von Regen zu Regen,
von Schiefer- zu Ziegeldach,
eingeschleppt wie eine Krankheit,
Schmuggelgut, dem überbracht,
der es nicht haben will -
jenseits der Wand schallt das Fensterblech,
rasselnde Buchstaben, die sich zusammenfügen,
und der Regen redet
in der Sprache, von welcher ich glaubte,
niemand kenne sie außer mir -
Bestürzt vernehme ich
die Botschaften der Verzweiflung,
die Botschaften der Armut
und die Botschaften des Vorwurfs.
Es kränkt mich, daß sie an mich gerichtet sind,
denn ich fühle mich ohne Schuld.
Ich spreche es laut aus,
daß ich den Regen nicht fürchte und seine Anklagen
und den nicht, der sie mir zuschickte,
dass ich zu guter Stunde
hinausgehen und ihm antworten will.
(Günter Eich)
Samstag, 9. November 2013
Donnerstag, 7. November 2013
Herbst
Die Tauben sitzen schwer wie Steine
Der Baum im Hof verliert Gewicht
Ein alter Mann vertritt die Beine
Wird Herbst da draussen, wie ich meine
Zwölf Bänke stehn und sind vergessen
Ein Tulpenbeet hat nichts zu tun
Ein Sonnenstrahl grüsst sehr gemessen,
Den Herbst da draussen, und in mir
(Hildegard Knef)
Dienstag, 5. November 2013
In uns sind alle Leidenschaften
und alle Laster
und alle Sonnen und Sterne,
Abgründe und Höhen,
Bäume, Tiere, Wälder, Ströme.
Das sind wir.
Wir erleben
in unseren Adern,
in unseren Nerven.
Wir taumeln.
Brennend
zwischen grauen Blöcken Häuser.
Auf Brücken aus Stahl.
Licht aus tausend Röhren
umfliesst uns,
und tausend violette Nächte
ätzen scharfe Falten
in unsere Gesichter.
(George Grosz)
Novembertag
Nebel hängt wie Rauch ums Haus,
drängt die Welt nach innen,
ohne Not geht niemand aus,
alles fällt in Sinnen.
Leiser wird die Hand, der Mund,
stiller die Gebärde,
Heimlich, wie auf Meeresgrund,
träumen Mensch und Erde.
(Christian Morgenstern)
Sonntag, 3. November 2013
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